Als er durch die schwere Holztür ins Freie trat, blinzelte Alexander Schellenberg und rückte seine Brille zurecht. Die Sonne blendete ihn, trotzdem sah er deutlich ein Trio, dass nicht eingeladen war mitten in der Hochzeitsgesellschaft: Herr Prantl, sein Mantel viel zu warm für die Jahreszeit, Frau Mielke im pastellgelben Blouson, und Enno wie immer im Parka. Als Alexanders Hand nervös über seine langen Haare und durch den sauber gestutzten Bart fuhren, fielen ihm seine eigenen Manschettenknöpfe ins Auge. „Jetzt kommst Du unter die Haube“, rief Enno mit einer lauten Kermit-Stimme. Ein paar Gäste blickte neugierig zu dem großen Skinhead und seiner eher unscheinbaren Begleitung. Die Frau in der gelben Jacke kniff die Augen zusammen und blickte starr geradeaus. Alexander ging durch den Kopf, wie er Frau Mielke kennengelernt hatte. An seinem ersten Arbeitstag als Leiter der Tagesstätte für Psychiatrieerfahrene hatte sie ihm leise, aber bestimmt von den Stasi-Seilschaften erzählt und von ihrem Plan, erst Meiningen zu übernehmen und von da aus die DDR wieder aufzubauen. Er hatte sie zuerst ins Büro gebeten und danach gemerkt, daß sie eine Klientin war, denn in ihrer blaugrauen Strickjacke hatte sie wie eine Kollegin gewirkt. Das konnte man von Enno und Herrn Prantl nicht behaupten. Während Enno Alexander zu sich winkte, stand Prantl leicht vornüber gebeugt daneben und murmelte vor sich hin. In seinem Kopf hörte Alexander die sonore Stimme:„Im Osten hab ich die Schachteln mit den Patronen voll gemacht. Zehn Reihen und immer fünf Patronen. Und dann die Schachtel zumachen. Mit der Wende haben die mich dann nicht mehr gebraucht.“. Alexander drängte sich zwischen Herrn Prantl und seine Schwiegermutter in Spe, die ein Gesicht machte, als fürchtete sie, die Flecken von Prantls Mantel würde gleich auf ihr purpurnes Kleid überspringen. „Wie schön, daß Sie hier sind. Am Montag werden wir in der Tagesstätte einen kleinen Umtrunk haben“ sagte Alexander deutlich, während er sich ein klein wenig vorbeugte und den Blickkontakt mit Enno und Frau Mielke suchte. Er hörte nicht darauf, was Frau Mielke zu ihm sagte, schüttelte Herrn Prantl die Hand, murmelte noch einmal, wie schön der überraschende Besuch sei und dass er sich jetzt leider verabschieden müsse.
Wie ein Sack ließ er sich in den Sitz des schwarzen Volvo fallen. Als die Autotür hinter ihm zuklappte und der Wagen langsam in Richtung Kirche rollte, ging er in Gedanken die drei ungebetenen Gäste durch. Prantl war dement. Mit seiner Tagesdosis von 750mg Seroquel konnte man ihn eigentlich bequem in die Ecke stellen und brabbeln lassen, das war nicht schön, aber wenigstens nicht so auffällig wie Enno. Seine Akte war eindeutig, „Diagnose: Borderline-Persönlichkeitsstörung; Fremdgefährdung: keine“. Aber wer kannte schon die Akte. Die Gäste sahen einen 1,90 großen Skinhead, der sich ruckartig bewegte und hörten eine Stimme wie eine Trompete. Frau Mielke war sicher die unauffälligste in dem Trio – so lange sie nicht anfing, ihr Gegenüber in ihre schizoiden Wahnvorstellungen einzubauen. Alexander wurde bleich bei der Erinnerung an einen geselligen Abend bei seinen zukünftigen Schwiegereltern. Der Schwiegervater hatte gesagt: „Wenn Du mit den Verrückten klarkommst, bändigst Du auch unsere Tochter“ und Alexander hatte betont, dass seine Klienten nicht verrückt, sondern psychisch beeinträchtigt waren und weiter ausgeführt, dass Frau Mielke immerhin seit 35 Jahren im selben Neubaublock wie seine Anverwandten wohne. „Die war schon immer sonderlich“ hatte die Schwiegermutter gemeint, woraufhin er mit Blick auf ihr geschientes Bein geantwortet hatte, dass Persönlichkeitsstörungen auch nicht sonderlicher seien als Beinbrüche. Daraufhin hatten sie ihn wiederum angesehen, als sei er verrückt. Man hatte das Thema nicht vertieft und war etwas ernüchtert auseinander gegangen an diesem Abend. “Wenigstens muss man mit einem Beinbruch zuhause bleiben“ ging es ihm durch den Kopf, als der schwarze Volvo vor der Kirche langsam zum Stehen kam.
„Ein Glück“ dachte Alexander. Keiner der Klienten war vor der Kirche zu sehen. Die Hochzeitsgesellschaft hatte den Weg durch die Fussgängerzone genommen und stand feierlich gewandet auf den breiten Treppenstufen. Alexander atmete tief durch, blickte in die Runde und lächelte. „Wirklich nett, daß sie mir gratulieren wollten“ ging ihm durch den Kopf, während er innerlich darüber lachte, welche Ängste er ausgestanden hatte. Herr Prantl, der sich auf der Suche nach einem kleinen Imbiss an den Hostien verging. Frau Mielke, die allen Anwesenden ernst erklärte, daß die Trauung ungültig sei, da der Pfarrer auf der Gehaltsliste der Stasi stünde. Enno, der mitten in der Zeremonie von hinten rief „Ist der Ring auch echt?“. „Absurd“ dachte er jetzt, „sie wollten mir einfach nur gratulieren.“ Die Hochzeit würde ganz normal über die Bühne gehen und er würde gleich beweisen, dass er trotz seiner langen Haare und trotz des sonderlichen Jobs dazu gehörte. „Wenn hier einer normal ist, dann ich“ sagte er sich, wie immer, wenn er sich etwas aus dem Gleichgewicht gebracht fühlte.
Die schwere Kirchtentür ging auf. Ganz vorne, in der ersten Reihe links saß das Trio. Ihm wurde glühend heiß. Er wusste, daß die Braut links vor dem Altar stehen würde und er selbst rechts – mit direktem Blick auf die drei. Die alte Kirchenbank knackte, als Ennos sich ruckartig umwandte und breit in seine Richtung grinste. Der Hochzeitsmarsch setzte ein. Frau Mielke und Herr Prantl saßen nebeneinander, ihre Köpfe zusammengesteckt. Alexander glaubte ihr tuscheln zu hören, wie ein Kurzschluss in der Elektroinstallation. Die Orgelmusik hallte in dem alten Bau, sie kam von hinten und mit einer kurzen Verzögerung wieder von vorne, daß ihm ganz schwindelig wurde. „Wir sind heute hier zusammengekommen“. Herr Prantl und Frau Mielke blickten jetzt in seine Richtung. Sahen die anderen Gäste auch zu seinen Klienten? „Um diese jungen Leute im heiligen Bund der Ehe zu vereinen“. Frau Mielkes Augen verengten sich zu Schlitzen und Alexander hielt die Luft an. „Sollte einer der Anwesenden einen Einwand gegen die Verbindung vorzubringen haben“. Herr Prantl wandte langsam seinen Kopf und sah erwartungsvoll Enno an. Alexanders Hände begannen zu zittern. „So möge er ihn jetzt vorbringen oder für immer schweigen“. Enno rückte seine massigen Gliedmaßen zurecht, setzte sich gerade hin. Sein Kopf ruckte in die Höhe. Sein Kehlkopf tanzte auf und ab. Die Nachmittagssonne spiegelte sich auf der polierten Glatze und er schien sich zu räuspern, als Alexander losschrie: „Halt doch einfach die Klappe“. Erst als er das Echo seines eigenen Schreies hörte, war Alexander klar, was er getan hatte. Das Echo verhallte, die Kirche war still wie ein Grab. Enno, Frau Mielke und Herr Prantl sahen ihn mit offenen Mündern an. Alexander konnte den Bick nicht ertragen. „Raus hier, nur raus“ dachte er. Bevor die schwere Tür hinter ihm zufiel, hörte er aus der Kirche eine Stimme wie Kermit der Frosch: „Ist ja irre.“
Diese leicht widernatürliche Geschichte ist im Rahmen eines Schreibworkshops des Kulturrausch beim Textil-Festival entstanden. Sie ist gar nicht von wi(e)derdienatur!