Seit gestern veröffentlicht im neuen hEFt. Der zweite und dritte Teil der Auseinandersetzung ist hier und hier.
Widerdienatur macht Theorie. Wir wollen den Zusammenhang von Sexualität und Kapitalismus verstehen. Mit Liebe- und Beziehungskritik haben wir uns schon jahrelang auseinandergesetzt. Aber Sex hat nicht nur im wahren Leben, sondern auch in der Theorie nicht notwendig mit Liebe zu tun. Deswegen sind unsere Ausführungen zu Sex und Kapitalismus eher fragmentarisch und dokumentieren unseren derzeitigen Diskussionsstand. Die vielen Fußnoten zeigen Grenzen und Widersprüche auf und sollten daher auch gelesen werden.
Unterdrückt der Kapitalismus die Sexualität?
Der erste Versuch, Sex und Kapitalismus politisch zusammen zu denken, ist die Bewegung für Sexualökonomie und Politik (Sexpol) in den 1930er-Jahren1. Mit Schulungen, Veranstaltungen und in Beratungsstellen werden vor allem junge Arbeiter_innen über Sexualität aufgeklärt. Die Zeiten sind andere als heute, Verhütungsmittel sind schwer zu bekommen und ein eigenes Zimmer, geschweige denn eine eigene Wohnung ist Luxus und für die Arbeiterjugend nicht bezahlbar. Daher argumentierte die Sexpol, daß der Kapitalismus einer Erfüllung der sexuellen Bedürfnisse entgegen stünde2. Das begründete einen sexualitätspolitischen Antikapitalismus auf der praktischen und die Repressionshypothese auf der anderen Seite.
„Der Kapitalismus unterdrückt die Sexualität“ behauptet Wilhelm Reich, Vordenker der Sexpol-Bewegung. Er argumentierte weiter, nicht genutzte sexuelle Energie würde sich im Menschen anstauen und Lust an der Unterwerfung produzieren. Gleichzeitig geht er davon aus, daß Sexualität ein Potential zur gesellschaftlichen Befreiung in sich birgt – wenn nur die sexuelle Energie freigesetzt würde. Um das zu befördern, baut Reich einen Orgon-Akkumulator – ein metallverkleideter Holzkasten, der sexuelle Orgon-Energie konzentrieren soll3, um den „Triebstau“ zu überschwemmen und damit die Repression – im Inneren wie in der Welt – hinwegzuspülen.
1933 wird Reich aus der KPD und aus der Internationalen Psychoanalytischen Gemeinschaft ausgeschlossen. Ob das an der kleinbürgerlichen Sexualmoral der Kommunisten lag oder an einer begründeten Kritik an Reichs Vorstellungen ist von heute aus schwer zu sagen.
Spätere Reichianer_innen verkaufen möglichst wahlloses Rumficken als Schlüssel zur Befreiung. Vor allem in der 1968-er Bewegung wird der Kurzschluss „Ficken macht revolutionär“ zum Credo von Psycho- und Polit-Sekten wie der Aktionsanalytischen Organisation (OOA), die am Ende wegen massenhafter sexueller Übergriffe gegenüber Minderjährigen aufgelöst wurde.
Repressionshypothese, die zweite
Auf eine weniger mechanistische und überhaupt nicht aktivistische Variante macht die Kritische Theorie die Unterdrückung von Sexualität im Kapitalismus zum Thema4. In Anschluss an Freud5 sahen Leute wie Herbert Marcuse die Entwicklung der Menschheit analog zur Entwicklung des einzelnen Individuums als Prozess der der fortschreitenden Unterdrückung der Natur an6:
Furchtbares hat die Menschheit sich antun müssen, bis das Selbst, der identische zweckgerichtete Charakter des Menschen geschaffen war, und etwas davon wird noch in jeder Kindheit wiederholt7
Im Sinne der Kritischen Theorie ist Subjektivität also schon immer eine Bearbeitung einer vorab gegebenen inneren Natur. Ein gewisses Realitätsprinzip, das den unmittelbaren Lustgewinn zugunsten einer langfristigeren Perspektive zurückstellt, sehen sie als notwendig für die Entwicklung der Menschheit an. In der bisherigen Geschichte hatte das immer etwas repressives8. Marcuse nennt in „Triebstruktur9 und Gesellschaft“ die aktuelle Form des Realitätsprinzips „Leistungsprinzip“. Dem Leistungsprinzip entspricht eine spezifische Sexualität10: Damit rational gearbeitet werden kann, darf es nur bestimmte Körperteile geben, denen gewissermaßen sexuelle Handlungen zugestanden sind. Nur so können die Menschen in der Produktion bestehen – würden andere Körperteile lustbesetzt sein, wäre die Rationalität im Arbeitsprozess nicht mehr gewährleistet. Zudem ist Sexualität im Kapitalismus der Logik der Fortpflanzung unterworfen. „Zwecklose“ – nicht genitale und damit unvernünftige – sexuelle Handlungen würden weder das Nachwachsen neuer Arbeiter_innen sicherstellen, noch eine geordnete Gesellschaft garantieren und werden daher als pervers abgewertet.
Marcuses Utopie ist aber nicht mehr wie bei Reich die naive Befreiung der Triebe, sondern eine Gesellschaft mit einem nicht-repressiven Realitätsprinzip, in der Kulturentwicklung und Lustentfaltung sich nicht mehr widersprechen. In der unglaublichen Entfaltung von Produktivkräften sieht er das Potential, die Lebensnot – den Mangel, der die Unterdrückung von Trieben notwendig macht – abzuschaffen. Durch eine neue, nicht mehr der Profitmaximierung unterworfene Nutzung von modernen Technologien könnten sich die Menschen in spielerischen und nicht zweckrationalen Handlungen weiterentwickeln und verwirklichen – was dann auch eine nicht-repressive Sexualität beinhalten würde11.
Zwischen Schulmädchenreport und BRAVO
Gerade in den 1970er-Jahren wird es immer weniger plausibel, das Verhältnis von Sexualität und Kapitalismus nur als Unterdrückung zu sehen. Als Beate Uhse 1962 den ersten Sexshop eröffnet, befürchtet sie noch Übergriffe empörter Bürger_innen. 1965 ist es ein Skandal, daß Reifen mit langen Frauenbeinen beworben werden. 10 Jahre später ist geradezu Norm, was vorher noch verboten war. Mit der „Sexwelle“ wird Sexualität zum Thema Nr. 1 in den bürgerlichen Medien. „Bin ich normal, wenn ich mit 16 noch Jungfrau bin?“ fragen Teenager 1972 in der BRAVO, während Konsumsphäre und Freizeit geradezu mit sexualisierten Darstellungen von jungen Frauen zugepflastert werden.
Der Sexualität scheint nicht mehr der gefährliche Charakter anzuhängen, der ihr einstmals angehörte. Dafür wird der Sex verwarenförmigt – er wird genutzt, um Waren zu verkaufen und er wird selbst als Ware gehandelt.
Vielen Apologet_innen der Sexuellen Revolution galt diese Entwicklung als Befreiung. Die Kritische Theorie sieht die Entwicklung als „repressive Entsublimierung“. Entsublimierung bedeutet, daß es mit der sexuellen Befreiung nicht mehr so stark nötig ist, sexuelle Bedürfnisse zu sublimieren – sie auf andere, kulturschaffende, Ziele umzulenken. Das könnte eine Befreiung bedeuten, nur leider manifestiert sich die neue sexuelle Freiheit wieder in repressiven Formen. Sie wird genutzt, um Dinge zu verkaufen und die Leute zufrieden zu halten12.
Neu ist daran, daß auch der nicht auf Fortpflanzung gerichtete Sex produktiv genutzt wird, statt ihn zu unterdrücken. Unsere These wäre dazu, daß es immer beides gibt: Repression und produktive Nutzung von Sexualität. Zu fragen ist, wie sich das Verhältnis von beiden verändert – und das ist keine theoretische, sondern eine empirische Geschichte, die ein andermal erzählt werden soll.
Den nächsten Teil unserer Auseinandersetzung mit Sexualität und Kapitalismus beginnen wir mit Michel Foucault, der untersucht, wie moderne Regierung „Leben macht“, um es produktiv zu nutzen.
Queer-feministische Gruppe wi(e)derdienatur im März 2010
- Das gilt zumindest für den deutschsprachigen Raum. Über solche Kämpfe und Theorien in den USA oder anderswo müsste man mal recherchieren. [zurück]
- Man kann hier kritisch einwenden, daß schon die Vorstellung, daß man ein eigenes Zimmer und Verhütungsmittel für Sexualität benötigt, eine spezifisch moderne Sache ist, die im bäuerlichen Mittelalter kaum jemand geteilt hätte. [zurück]
- Im Internet kann man diese Kästen für 1300€ erwerben. [zurück]
- Wir machen hier einen Sprung von den 1930ern in die 1960er, was auch daran liegt, daß unser Wissen über sexualitätspolitische Diskurse und Theorien lückenhaft ist. Über die Verknüpfung von Sexualität und Politik im NS könnte man schon einiges sagen, das soll hier aber nicht Thema sein. [zurück]
- Bei dem fragen wir uns: Ist sie die Psychoanalyse eher ein ideologischer Apparat, der genitale Sexualität als Norm festschreibt oder Vehikel der Befreiung, indem sie psychische Prozesse erklärbar macht? [zurück]
- Kann man überhaupt von etwas in den Menschen ausgehen, das nicht bereits gesellschaftlich ist? Landet man dabei automatisch bei Biologie und Anthropologie („Der Mensch überhaupt ist ..“)? Oder kann das nichtgesellschaftlich auch etwas individuelles – das Nichtidentische? – sein? [zurück]
- Adorno/Horkheimer in der Dialektik der Aufklärung [zurück]
- Das bezieht sich in der Tat auch auf Sexualität, insofern ist Sexualität etwas, daß die Kritische Theorie auch schon in der Antike finden. Das bedeutet aber nicht, daß sie eine historisch gleichbleibende Form und Funktion von Sex unterstellen – sie gehen schon von historisch unterschiedlichen Formen aus. [zurück]
- Was es mit den „Trieben“ auf sich hat, ist umstritten. Wenn die Kritische Theorie von vornherein von einer Beherrschung der Natur ausgehen (also einer Vermischung von Hardware und Gesellschaft), wie kann man dann überhaupt die eine Seite – das Natürliche – bestimmen? Mit anderen Worten: Welchen Sinn macht „Trieb“ und „Natur“, wenn sie nur als der Antagonismus von „Vernunft“ und „Kultur“ gedacht werden können? [zurück]
- Das ist dann das, was bei Foucault „Sexualität“ heißt. [zurück]
- Für Marcuse ist die Produktivkraft an sich neutral. Gegen diesen Fortschrittsoptimismus kann man kritisch einwenden, daß die Form der Produktivkräfte selbst repressive Strukturen (Expert_innentum, Trennung von Hand- und Kopfarbeit, Pünktlichkeit, „sich dem Takt der Maschine unterwerfen“) bedingt und daher nicht so einfach für eine nichtrepressive Gesellschaft genutzt werden kann. Auch das Effektivität hässlich macht – also die hochproduktive Herstellung dem Produkt ihren Stempel aufdrückt, wie man an jeder Gewächshaustomate merkt – ist für ihn kein Thema. Er sieht nicht die Notwendigkeit einer Transformationsstrategie, um zu entscheiden, was wir nach der Revolution mit Autobahnen, Kohle- und Atomkraftwerken und Fließbändern machen. [zurück]
- Daß die damalige Sexuelle Revolution völlig patriarchal verlief und vor allem Frauen einem Normdruck der sexuellen Verfügbarkeit ausgesetzt hat, ist den Herren von der Außerparlamentarischen Opposition im Übrigen ebensowenig aufgefallen wie den Professoren der Kritischen Theorie. [zurück]
3 Gedanken zu „Sexualität und Kapitalismus I“