Der Kommentator in der Thüringer Allgemeinen meint abschließend zum diesjährigen CSD, Erfurt sei sehr tolerant.
Toleranz kommt vom lateinischen Wort tolerare, daß „erdulden“ bedeutet. Erfurt ist also duldsam gegenüber „anderen“ Lebensentwürfen, wie es im Kommentar heißt. „Anders“ findet uns Herr Keller also, aber anders als wer? Anders als er? Wie lebt er denn überhaupt? Im Reihenhaus mit Garten, Frau und 2,3 Kindern? Man weiß es nicht, allein die Statistik weiß, daß in „spätmodernen Beziehungswelten“ eine allgemeinverbindliche Norm für Lebensentwürfe nur noch schwer auszumachen ist. Bleibt also die Frage: Was meint hier „anders“? Meint es am Ende genau das, was auch „tolerieren“ nahe legt? Daß es nämlich in Erfurt sehr wohl eine verbindliche Norm gibt, die zwar schon lange nicht mehr von der Mehrheit gelebt wird, die sich aber trotzdem der Abweichung überlegen fühlt und das „andere“ deswegen immer nur tolerieren, niemals aber akzeptieren will?
Weil Erfurt so nett ist, uns zu erdulden, meint Herr Keller auch, wir sollten lieber nicht das Alkoholverbot in der Innenstadt und die Räumung des Besetzten Hauses thematisieren. Das heißt, wir sollen doch bitte das Anderssein der anderen Anderen, die aus noch anderen Gründen diskriminiert werden, bitte nicht thematisieren. „Liebe Schwule und Lesben, macht doch bitte lieber einen Karnevalsumzug statt konkrete Ausgrenzung zu thematisieren“ könnte man sein Anliegen paraphrasieren. Warum, sagt er nicht. Vielleicht, weil da die Duldsamkeit aufhört? Weil man als schwuler Versicherungsangestellter in Erfurt gut leben kann, aber als schwuler Punk doch bitte das Maul nicht aufreißen soll? Für mich macht es jedenfalls keinen Unterschied, ob ich als Homo, als Punk oder als Perverser diskriminiert werde. Alle drei Erfahrungen kommen daher, daß man in Erfurt kein leichtes Leben hat, wenn man „anders“ ist und daher nicht in das beschränkte Weltbild des Durchschnittsspießers passt.
Insofern ist es wunderbar, daß beim Erfurter CSD (im übrigen schon seit Jahren) ein Bündnis verschiedenster Gruppen auf die Straße geht und gegen Ausgrenzung in all ihren Facetten demonstriert — denn Bewegung fängt da an, interessant zu werden, wo es nicht mehr nur um’s eigene Interesse geht, sondern der Vielfalt der Ausgrenzung eine Vielfalt an Bewegung entgegen gestellt wird.
eine/r von wi(e)derdienatur